8. Reisetag 14.02.2011 – Valparaiso
Der heutige Tag hat nur ein Ziel: mal Pause machen. Nach dem wir in der ersten Urlaubswoche häufig früh raus mussten und zuweilen auch ein strammes Programm hatten, gibt es heute eigentlich keins. So beschließen wir, nach einem späten Frühstück gegen 9.00 Uhr an den Strand von Vina del Mar zu fahren. Sie ist die mondäne Schwesterstadt zu Valparaiso, die auch unmittelbar ineinander übergehen. In Vina del Mar gibt es Parks, Grünflächen, Palmen und moderne Architektur, die zugegeben nicht immer wirklich schön ist. Aber im Gegensatz zu Valparaiso gibt es hier Strände. Auch wenn diese ein bisschen körnig und nicht eben als weiß zu bezeichnen sind. Aber heute ist es ohnehin ziemlich diesig. Dazu gibt es eine ziemliche Gischt der ziemlich mächtigen Wellen, die an den Strand geworfen werden. So ist es heute auch nicht gestattet ins Meer zu gehen. Meinen immer noch roten Ohren kommt das Wetter aber durchaus entgegen. Aber gestern hatte uns unser lokaler Guide ja schon erklärt, das eine Aussicht wie gestern bis zum Aconcagua, mit seinen 6962m der höchste Berg auf dem gesamten amerikanischen Kontinent, gleichzeitig auch der höchste außerhalb Asiens, eher schlechtes Wetter ankündigt. Bezeichnend vielleicht noch für die Lage Chiles, das zwar die meiste Fläche des Gebietes, das man zum Aconcagua zählt auf chilenischen Boden ist, aber der Gipfel sehr zum Leidwesen der Chilene eben in Argentinien liegt. Überhaupt scheint es fast so, das von allen etwas höhen gelegenen Standorten praktisch in ein oder sogar mehrere Nachbarländer gesehen werden kann. Chile ist eben ein schmales Land, an der breitesten Stelle sind es etwas mehr 400km, im Durchschnitt aber eben nur 180km breit. Dafür ist Chile in der Nord-Süd Ausrichtung das längste Land der Erde mit 4300km, ohne die Gebiete in der Antarktis auf die man Anspruch erhebt. Das entspricht einer Strecke von Dänemark bis in die Sahara. Daraus ergibt sich eine Fläche von rund 756000 qkm, es ist von der Flächte also etwa doppelt so groß wie Deutschland. Wie schon mal gesagt, hat Chile aber gerade mal rund 17 Millionen Einwohner mit dem klaren Schwerpunkt im Großraum von Santiago.
Aber noch mal zurück zum Verhältnis zum Nachbarn Argentinien. In der Politik war das Verhältnis nicht immer frei von Spannungen. So legte man immer großen Wert auf die Stärke des eigenen Militärs nicht zuletzt um sich gegen den großen Nachbarn Argentinien, mit dem Chile eine immerhin über 5300km lange Grenze verbindet, zur Wehr setzen zu können. Und in Grenzfragen gibt es praktisch seit dem Grenzvertrag von 1881 Spannungen. Damals wurde festgelegt, dass Teile Feuerlands zu Argentinien gehören sollten, die Magellanstraße aber vollständig zu Chile. Da es dort unten eine große Zahl von Inseln gibt, gibt es in einigen Bereichen aber nicht „die“ Magellanstraße. Weiteres Konfliktpotential steckte lange Zeit in den Gebietsansprüchen der beiden Länder in der Antarktis, die sich anfangs stark überlappten. Selbst in den Anden waren manche Gebiete nicht wirklich klar definiert. Das lag schlicht daran, das dort genauso wie in dem anfangs als wertlos angesehenen Feuerland die genauen Verhältnisse bei der Grenzziehung nicht bekannt waren, da die hohen Anden zu der Zeit ein schier unüberwindliches Hindernis darstellten, und die früheren spanischen Besetzer sich nicht in „Detailfragen“ verloren hatten, da sie ohnehin große Teile des südamerikanischen Kontinents beherrschten.
In Valparaiso hat übrigens auch am 25.11.1915 ein dunkles Kapitel der Geschichte Chiles ihren Anfang genommen, die Geburt von General Augusto Pinochet. Er übernahm durch einen Putsch des Militärs am 11.09.1973 die Macht im Lande, kaum drei Wochen zuvor hat der beim Putsch ums Leben gekommene Präsident Allende ihn zum Oberbefehlshaber des Heeres gemacht. Anfangs regierte er als Vorsitzender einer Militärjunta, später als Präsident, obwohl er nie gewählt worden ist. Unter seiner Diktatur wurden zahlreiche Gegner ermordet oder galten als „verschwunden“. So wurden noch am Tag des Putsches über 2100 Menschen von der Polizei oder Soldaten verhaftet, die meisten von ihnen standen der alten Regierung Allende, Linksparteien oder den Gewerkschaften nahe. Große Stadien, Konzerthallen, Schulen und andere öffentliche Gebäude wurden zu Gefängnissen umfunktioniert. Allein im Nationalstadion in Santiago wurden 40000 Menschen festgehalten. Er regierte mit Ermordung, Folter und Schreckensherrschaft. Über eine Millionen Chilenen flohen ins Ausland. Aber auch dort waren sie nicht sicher, so kamen 1974 der Vorgänger Pinochets als Oberbefehlshaber der Armee Carlos Prats in Buenos Aires, und zwei Jahre später der ehemalige Botschafter Chiles in Amerika in New York bei Bombenanschlägen ums Leben. Beide Attentate werden der DINA, dem Geheimdienst Chiles zugeschrieben. In Chile selbst lief die erste Gewaltwelle der Militärjunta im November aus, die öffentlichen Gebäude wurden geräumt, statt dessen baute man ein Geheimgefängnis und Konzentrationslager. Auch die Colonia Dignidad wurde für Folterungen genutzt und erlangte grausame Berühmtheit. Gefangene hatten kein Recht auf Kontakt nach Außen, einen Anwalt hatten sie ebenfalls nicht. Die Junta besetzte alle Ministerien anfangs mit hohen Militärs, die später teilweise durch Ökonomen ersetzt worden. Zahlreiche Staatsunternehmen wurden privatisiert, das ging bis zu den Sozialsystemen, das Gesundheitssystem wurde kostenpflichtig und die Renten wurden auf ein Rücklagensystem umgestellt. Man erließ neue Gesetze und 1980 sogar eine neue Verfassung, über die man in einer Volksentscheidung abstimmen ließ, wobei die Wahl aber alles andere als frei war. Die neue Verfassung ermöglichte Pinochet bis 1989 weiter zu regieren, die Staatsmacht wurde stark auf seine Position ausgerichtet. Außerdem machte er sich zum Senator auf Lebenszeit, was ihm gleichzeitig Immunität verschaffte, wenn er irgendwann einmal nicht mehr Präsident sein sollte. In der Verfassung wurde auch ein Zweikammerparlament geschaffen, der Senat bestand aus je zwei Vertretern jeder Region und neun ernannten Personen, dazu gab es das Abgeordnetenhaus, das vom System her mit unserem Bundestag vergleichbar ist. Nur das eben die Macht weiter bei der Junta blieb. Im Jahre 1988 ließ er das Volk über die Frage abstimmen, ob es bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen nur einen Kandidaten – ihn selbst – geben sollte. 54% stimmten dagegen. So wurde er bei folgenden Wahlen abgewählt und Patricio Aylwin wurde am 11.03.1990 Präsident. Gemäß der auf Pinochet zugeschnittenen Verfassung blieb er bis 1998 Oberbefehlshaber des Heeres.
Auf einer Reise nach Großbritannien, zu der Zeit war Pinochet Senator und Mitglied des Verteidigungsausschusses, bei der er sein Rückenleiden behandeln lassen wollte, wurde Pinochet auf Ersuchen Spaniens verhaftet, wobei er unter Hausarrest gestellt wurde aber weiterhin ungehindert Besuch empfangen durfte. Es ging dabei um den Tod spanischer Staatsbürger, für die sein Regime verantwortlich sein sollte. Nach verschiedenen juristischen Instanzen hätte er ausgeliefert werden können. Inzwischen hatten auch die Schweiz, Belgien und Frankreich entsprechende Anträge gestellt. Am 02.03.1999 entschied der britische Innenminister, dass Pinochet jetzt ausgeliefert werden konnte. Chile bat aus humanitären Gründen um die Ausreiserlaubnis nach Chile, wofür sich auch der Vatikan, Pinochet war Katholik, und die USA einsetzten. Bei den Amerikanern wird vermutet, dass sie Angst hatten, dass ihre Beteiligungen bei Menschenrechtsverletzungen ans Licht kommen könnten. Bei seiner Rückkehr nach Chile wurde er begeistert von seinen Anhängern empfangen, gleichzeitig gab es Demonstrationen seiner Gegner. Pinochet wurde unter Hausarrest gestellt, es dauerte weitere Jahre bis seine Immunität in Chile aufgehoben wurde. Am 05.01.2001 wurde schließlich in 18 Fällen gegen ihn Anklage erhoben, es ging dabei um verschwundene Leichname aus dem Jahr 1973, die nicht unter das Amnestiegesetz von 1978 fielen. Pinochet wurde später gegen eine Kaution von umgerechnet 3500 Euro wieder auf freien Fuß gesetzt. Im Juli des gleichen Jahres wurde Pinochet wegen seines Gesundheitszustandes als prozessunfähig erklärt. Damit endeten die juristischen Auseinandersetzungen aber noch nicht. Wegen weiterer Verbrechen wurden weitere Anklagen erhoben. Im Jahre 2005 wurde bekannt, dass der britische Rüstungshersteller British Aerospace im Rahmen von durch Pinochet vermittelten Waffengeschäften 1,5 Millionen an ihn gezahlt hatte. Es fanden sich weitere Millionen an, die Pinochet im Ausland angelegt hatte. Es folgten weitere Anklagen wegen Bestechlichkeit und Steuerhinterziehung, die dann aber nach seinem Tod am 10.12.2006 eingestellt wurden. An seinem Todestag kam es in Chile zu Unruhen zwischen Anhängern und Gegnern Pinochets. Das Militär forderte ein Staatsbegräbnis für Pinochet, was die Regierung ablehnte, wodurch ihm nur militärische Ehren zu Teil wurden. So wurde sein Leichnam lediglich eine Nacht öffentlich in der Militärakademie von Santiago aufgebahrt, da zehntausende seiner Anhänger von ihm Abschied nehmen wollte. Am nächsten Tag waren in den Medien Bilder von Neonazis, die den Hitlergruß an seinem Sarg zeigten. Auf der Trauerfeier, an der bis auf der in weiß erschienen Verteidigungsministerin kein Regierungsmitglied teilnahm, kam es zu ganz unterschiedlichen Reaktionen. Der Enkel des 1974 ermordeten ehemaligen Armeechef Carlos Prats spuckte auf den Sarg, während einige Anhänger mit dem Hitlergruß Abschied nahmen. Ähnlich umstritten ist auch heute noch die Position Pinochets in Chile. Viele verachten ihn wegen seiner Menschenrechtsverletzungen, es gibt aber auch immer noch zahlreiche Anhänger wegen seiner wirtschaftlichen Erfolge, auch wenn sein Ruf in dieser Frage wegen der Bestechungen gelitten hat. Eine 1991 eingesetzte „Wahrheitskommission“ stellte 2004 ihren Abschlussbericht vor, in dem heißt es, dass das Pinochet Regime durch die Geheimpolizei verschleppt, gefoltert und getötet hat, nur wegen des Verdachts „links“ zu sein. Außerdem wird berichtet, dass die Vergehen planvoll und keinesfalls Ausnahmen waren und daran Polizei, Geheimdienste und alle Teile der Armee beteiligt waren. Dennoch wurde Pinochet bis zu seinem Tode niemals von einem Gericht verurteilt. Nach der Trauerfeier wurde damals übrigens sein Sarg mit einem Militärhubschrauber nach Vina del Mar und von dort in die Stadt Concor gebracht, wo er eingeäschert worden ist. Dann verliert sich seine Spur, man vermutet aber, dass seine Familie die Urne auf ihrem Landsitz Los Boldos, auf dem Pinochet meist die Wochenenden im Sommer verbracht hatte, aufbewahrt.
Nach diesem langen Ausflug in die jüngere Geschichte Chiles bringe ich noch kurz meinen heutigen Tag zu Ende. Nach der Rückfahrt aus Vina del Mar habe ich mich im Bereich des Hafens noch ein wenig bei den kleinen „Verkaufsbuden“ aufgehalten, aber die Verkaufswaren waren eher billiger Tand aus Fernost, wie es ihn überall auf der Welt gibt. Eine Hafenrundfahrt mit den etwas überladenen kleinen Booten erschien mir auch nicht so verlockend. Die paar „Pötte“, ein deutsches Segelschulschiff, bei dem die Segel nicht gesetzt sind oder aus einiger Entfernung ein Kriegsschiff im weltweit üblichen Einheitsgrau fand ich nicht wirklich spannend. So bin ich gegen 17 Uhr zurück im Hotel, und lege mich im wegen der mehr als drei Meter hohen Decken kühlen Hotel aufs Bett und mache ein kleines Nickerchen. Gut beim nächsten Augenaufschlag ist es dunkel und die Uhr zeigt 3.10 Uhr, damit dürfte ich das Abendessen wohl verpasst haben, auch wenn es hier üblich ist, erst gegen 21 Uhr zu essen. Bleibt sich noch mal umzudrehen und den Schlafrückstand der letzten Tage aufzuholen.