5. Reisetag Esso – 14.08.2018
Wir starten gemütlich in den Tag mit Frühstück um 8:00 Uhr. Um 9:00 Uhr gehen wir in Richtung eines kleinen Museums in Esso, das sich mit den ethnischen Minderheiten in Kamtschatka vor allem aber mit den Evenen und Korjaken beschäftigt. Letztere sind übrigens nicht zu verwechseln mit den Kosaken, die allerdings bei der Besiedlung von Kamtschatka durchaus eine Rolle spielten. Die kriegerischen Kosaken waren vom russischen Zaren damit beauftragt, in seinem Namen den östlichen Teil des von ihm beanspruchten Machtbereichs überhaupt erst für ihn zu besetzen, oder soweit erforderlich auch mit Waffengewalt zu unterwerfen. Da diese dabei nicht gerade zimperlich Vorgingen, wurden die hiesigen indigenen Bevölkerungsgruppen beim Eintreffen der Kosaken deutlich dezimiert. Was allerdings teilweise auch auf das Einschleppen von bis dahin im heutigen Kamtschatka unbekannten Krankheiten zurückzuführen ist.
Das kleine Museum in Esso ist eigentlich dienstags geschlossen. Für angemeldete Gruppen macht der Direktor aber schon einmal eine Ausnahme, und öffnet heute extra für unsere Gruppe. Der Name Esso hat übrigens nichts mit der in Deutschland bekannten Tankstellenmarke zu tun, sondern stammt aus der Sprache der Korjaken und bedeutet dort Lärche. Einer Baumart die damals noch sehr verbreitet in diesem Bereich war. Heute dominiert auch hier die Birke, auch wenn am Tag der Herfahrt schon aufgefallen ist, dass es am Nachmittag überhaupt erst die ersten Lärchen in dem undurchdringlichen Wald am Straßenrand gab. Das mag durchaus damit zusammenhängen, dass das Gebiet um Esso herum offiziell Naturschutzgebiet ist, und deshalb der Holzeinschlag eingeschränkt ist.
Aber zurück zu unserem Tag. Am Eingang des Museums gibt es einen kleinen Shop, in dem man auch ein bisschen traditionelle Handwerkskunst der indigenen Minderheiten aus dem Norden Kamtschatka erwerben kann. Das Museum selbst besteht aus mehreren Gebäuden, die in den Stilen der Evenen bzw. Korjaken errichtet worden sind. Unser erstes Ziel ist ein Gebäude, das die Lebensweise der Evenen beleuchtet. Es gibt ein paar Präparate von heimischen Wildtieren, aber auch zahlreiche Alltagsgegenstände. Im Mittelpunkt des Gebäudes steht die klassische Aufteilung eines Zeltes in deren Mitte die Feuerstelle war, mit den Zelten zogen die Evenen umher. Sie unterhielten kleine Rentierherden, die sie als Zugtiere für ihre Schlitten nutzten. Von den Itenmenen übernahmen sie aber auch Hunde als Zugtiere für ihre Schlitten zu benutzten. Sie jagten wilde Rentiere, Elche, Schneeschafe, manchmal Bären, und Kleintiere wie etwa Erdhörnchen, Ziesel oder Murmeltiere. Sie fischten in den Flüssen mit Speeren und Netzen Lachse. In den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden sie dann durch die Sowjetisierung grundlegend in ihrer Lebensweise beschnitten. Sie wurden gezwungen, in festen Siedlungen zu leben. Einige von ihnen fanden Arbeit in Jagdbrigaden, in der Forstwirtschaft, in der Milchwirtschaft oder als Bauern. Dazu wurde ihr Leben sehr stark von der russischen Kultur beeinflusst, so dass ihre eigene nahezu verloren ging. Bei der letzten Volkszählung im Jahre 2010 gab es in ganz Kamtschatka noch rund 1800 Menschen, die sich als Evenen bezeichneten. Die Hälfte von ihnen lebte im Raum Esso. Die erwähnten Itenmenen sind als Volksgruppe in Kamtschatka praktisch völlig verschwunden, dabei waren sie es, die sich zuerst in Kamtschatka angesiedelt hatten. Sie waren es auch, die vor ca. 14.000 Jahren ins heutige Alaska übersiedelten. Wegen der seinerzeit herrschenden Eiszeit war der Meeresspiegel etwa 100 m niedriger als heute, und deshalb die Beringstraße, die den Nordosten Asiens von Alaska trennt, nahezu trockengefallen. Ihnen werden auch große Kenntnisse über den Einsatz der hiesigen Pflanzen in der Medizin zugeschrieben. Im Museum von Esso finden sich die Itenmenen außer mit ein paar größeren geschnitzten Holzfiguren aber nicht wieder. Den zweiten Schwerpunkt der Ausstellung setzen vielmehr die Korjaken. Sie zogen früher mit sehr großen Rentierherden vor allem im Norden Kamtschatkas umher. Das Rentier ist auch der Dreh und Angelpunkt im Leben der Korjaken. Sie lieferte Nahrung, Fälle für die Bekleidung oder als Baumaterial für ihre Zelte, Handelsgut und im Winter waren sie Zugtier für die Schlitten. Dabei bestanden die Herden der Rentiere häufig aus dem Besitz mehrerer Familien, die gemeinsam umherzogen, immer auf der Suche nach Nahrung für die Tiere. Über die Anzahl der Rentiere definierte sich der Reichtum und auch die soziale Stellung bei den Korjaken. Neben den umherziehenden Korjaken waren einige auch an den Küsten sesshaft. Sie betrieben Fischerei vor allem in den Flüssen, wozu sie auch zum Beispiel Reusen benutzten. Aber auch Meeressäugetiere wie Robben und Wale wurden von ihnen gejagt, dazu benutzten sie mit Robbenfällen bespannte Kajaks oder auch Einbäume aus Pappelstämmen. Ihre Behausung war klar in einen Männer- bzw. Frauenbereich gegliedert. Dort befanden sich dann auch die geschlechtsspezifischen Werkzeuge bzw. Utensilien. Auch dort war natürlich im Mittelpunkt der Behausung eine Feuerstelle. Sie lebten dabei in festen Behausungen, die mit Erdreich gegen die Kälte geschützt waren. Dabei gab es einen „Sommerausgang“, der durch einen niedrigen auf Erdbodenhöhe hinausführenden Gang bestand. Außerdem gab es einen „Winterausgang“, der über eine Luke in einigen Metern Höhe ins Freie führte. Damit wurde sichergestellt, dass man auch bei größeren Schneemengen, die hier durchaus üblich sind, einen sicheren Ausgang hatte. Wie auch die Evenen wurden die Korjaken in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts von den russischen Machthabern im fernen Moskau gezwungen, ihre alte Kultur und Lebensweise aufzugeben. Ihre großen Rentierherden wurden in kleine aufgeteilt, und die Menschen fanden in diesen Rentierbrigaden Arbeit. Es gab Vorgaben für die Produktion von Rentierfleisch, das zu festgelegten Preisen abgenommen worden ist. Wie auch die Evenen hatten die Korjaken Schwierigkeiten sich in ihrer aufgezwungenen Lebensweise zurecht zu finden, immerhin wurden sie dabei von einem neuen Sozialsystem aufgefangen, und viele Dinge des täglichen Lebens von der fernen Zentralregierung subventioniert. Mit dem Ende der Sowjetunion fielen aber viele Mitglieder der indigenen Bevölkerungsgruppen in die Armut. Bei den Korjaken gibt es zwar Märkte für ihr Rentierfleisch in Japan oder China, aber die Preise in Kamtschatka sind schlecht, und den meisten Profit machen Zwischenhändler, die die Ware auf die weit entfernten Märkte bringen.
Am Nachmittag besuchen wir noch eine Korjakin, die versucht ihre alte Kultur am Leben zu erhalten. Was aber schwer genug ist. Sie selbst spricht kaum noch die alte Sprache der Korjaken, und hat auch niemanden mehr, mit dem sie sich in der Sprache unterhalten könnte. Es gibt lediglich noch ein paar Greise, die die Sprache noch sprechen, womit das völlige Aussterben der Sprache nur noch eine Frage der Zeit ist, was so im Prinzip auch auf die anderen indigenen Bevölkerungsgruppen 1:1 übertragen werden kann. Dazu muss man wissen, dass die Russen die Kinder systematisch von ihren Eltern trennten, wenn diese zu Schule kamen. Damit wurde die Übertragung der Sprache, der Sitten und Gebräuche aber auch der Religion von den Eltern auf die Kinder unterbunden. Wie alle indigenen Bevölkerungsgruppen im heutigen Kamtschatka waren auch die Korjaken ursprünglich Angehörige eine Naturreligion, die auch dem Schamanismus anhingen. Die Schamanen vermittelten bei den Korjaken zwischen den Welten. Sie glaubten an eine Götterwelt, eine Welt in der die Ahnen eingingen, und die Welt der Menschen auf der Erde. Bei den Korjaken waren die Schamanen übrigens weiblich, bei den Evenen dagegen männlich. Die Zerstörung der Kulturen wurde durch die Zwangsumsiedlung von Russen in das heutige Kamtschatka zusätzlich forciert. So sind viele Dinge aus den alten Kulturen der indigenen Gruppen im heutigen Kamtschatka für immer verloren gegangen. Pikanterweise übernehmen die Gruppen heute Überlieferungen zu ihrer Kultur aus Forschungsreisen von russischen Expeditionen vor teilweise mehr als 200 Jahren. So sind die Aufzeichnungen von Georg Wilhelm Steller im Zuge der „Großen Nordischen Expedition“ zwischen 1733 und 1743 die größte und detaillierteste Quelle zum Leben der Itenmenen, und bei den Korjaken ist es Vladimir Jochelson mit seinen Aufzeichnungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Gegen 15:45 Uhr sind wir zurück an unserer Unterkunft, wo wir uns noch kurz auf unsere erste kleinere Wanderung vorbereiten. Es geht einen kleinen Berg am Rande von Esso hinauf. Insgesamt vielleicht rund 200 Höhenmeter. Der Aufstieg verläuft ziemlich steil einen Hang hinauf, der meist komplett mit Büschen umsäumt ist. Der Abstieg auf einer anderen Route verläuft deutlich flacher, und führt durch hohes Gras und anderen Pflanzenbewuchs, der schon mal 1,50m übersteigt. Dort sind die Mücken dann auch wieder deutlich aktiver, die beim Aufstieg noch erstaunlich zurückhaltend waren, und nur bei kurzen Pausen ein bisschen problematisch waren. Heute Nachmittag habe ich übrigens auch über einen längeren Zeitraum mein Mückennetz getragen, da diese kleinen Blutsauger schon ziemlich lästig sind, und auch nicht lange fackeln, um an menschliches Blut zu kommen. Gegen 19:00 Uhr sind wir zurück, es bleibt noch ein bisschen Zeit, um schnell in den Thermalpool zu steigen, und das warme Wasser auf die von der Wanderung beanspruchten Muskeln, aber auch auf die Mückenstiche wirken zu lassen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass insbesondere letzteres durchaus eine Wohltat ist. Das Wasser im Pool ist übrigens nur deshalb sehr angenehm warm, da es mit kaltem Wasser gemischt wird. Im Gegensatz zum Thermalpool wird das Wasser für die vorhandenen Duschen in unserer Unterkunft übrigens mittels einer Holzheizung erwärmt, was auch der Grund ist, dass es heute Morgen planmäßig lediglich bis 9:00 Uhr warmes Wasser gab. Aber zu der Zeit waren wir ja ohnehin schon unterwegs.